Samstag, 2. Mai 2015

Der Weg der Steine



"Hinter dem Col du Rousset beginnt der Midi" hat man mir gesagt. Das sei die Klimagrenze. Damit ist dieser Pass also so etwas wie der Gotthard in der Schweiz. Nach dem Gotthard kommt man ins Tessin, jener submediterranen Sonnenstube Helventiens. Und nach dem Col de Rousset, da  fängt der tiefe Süden Frankreichs an. Mit den Lavendelfeldern und den Pinien.
Diese Aussicht war wahrlich verlockend. Nach einem Tag und einer Nacht Dauerregen waren kein trockener Knochen mehr in Gamin und mir. Wir hatten in einer gespenstisch- verlassenen Ski-Station auf der Passhöhe übernachtet. Und nun galt es, einen Fussweg über den Pass zu finden. Der fast zwei kilometerlange Autotunnel kam für uns nicht in Frage.
Abschied von der Ski Station, die Nebel lichten sich.


Es hatte aufgehört zu regnen, die Sonne brach durch und verschaffte Gamin beste Laune. Leichtfüssig folgte er mir über den zauberhaften Wald und Bergweg. Als sich der Wald lichtete, offnete sich uns auf der Berghöhe eine atemberaubende Aussicht:


Allerdings kam gleich danach der Schreck: Der Weg führte nun steil hinunter, entlang der bodenlosen Tiefe. Eng, schief, voller Steine, so unwegbar wie der GR des Grauens bei Bouvante, nur noch höher, halsbrecherischer und noch gefährlicher.

Der Magen drehte sich um. Wieder akute Höhenangst. 

Aber jetzt stand ich vor der Entscheidung. Diesen Pfad nehmen, oder umkehren. Und zwar nach Vassieux. Durch den Strassentunnel geht es nicht. Umkehren nach Vassieux? DAS Gelatsche, alles retour, alles umsonst? Und danach? Wohin?

Nein, es musste gemacht werden.

Langsam, Schritt für Schritt. Ich tastete mich vorwärts, stocherte mit dem Stock nach Halt, befahl mir nur auf den Boden zu schauen und niemals  - NIE - in die Umgebung. 
Bald kam ein Felsvorsprung, so abfallend und steil, dass Gamin nicht mehr weiter mochte. Also bastete ich ihn ab, legte die Ladung vorsichtig auf den nicht eben üppig vorhandenen Platz am Boden und führte den Esel fast unbeladen hinunter. 100 Meter weiter unten liess ich ihn zurück, stieg wieder hinauf und holte das Gepäck nach. So kämpften wir uns vorwärts, 100 Meter, über 100 Meter. 

Doch dann, wir waren schon weit unten, degenerierte der verdammte Pfad in ein Meer aus Schotter, das wie eine versteinerte Lawine am Hang lag und durch das sich ein kaum noch zu erahnender "Pfad" schlängelte. Die Stabilität eines jeden Steines war rein optional, kaum trat man auf, kam Bewegung in den ganzen Steilhang. Ich bezweifelte, dass Gamin da mitging, aber er tat es. Wir tasteten uns milimeterweise vorwärts, immer wieder rutschten die Steine unter uns weg und polterten in den Abgrund. 

Wie kam ich da bloss hin? In eine Situation, in die ich niemals kommen wollte. Das Sinnbild all meiner Ängste hatte sich materialisiert, so real, dass es unwirklich war. 
Endlich hatten wir den Schotterpfad geschafft. Doch nun musste ich noch einmal zurück, das Gepäck holen. Wieder rauf, rutschend, nach Halt suchend. 

Die vier schweren Seesäcke bewegte ich nun ebenfalls milimeterweise vorwärts. Immer erst mit den Füssen Halt suchen, dann die Säcke etwas nachziehen. Die Steine polterten, rutschten. Plötzlich schien der ganze Hang instabil, unter meinen Füssen und Händen geriet alles in Bewegung. Ein Stossgebet an Aldo. Der Hang kam zur Ruhe.

Unter mir höhrte ich es krakelen. Entgegen meines Vorsatzes wagte ich einen Blick nach unten. 
Auf einer Aussichtsplatform die mit dem Auto erreichbar ist, standen ein paar Leute und zeigten nach oben zu mir, fotografierten und amüsierten sich köstlich über das Spektakel hoch über ihnen in der Wand. 
Wut ergriff mich - Gentlemen alter Schule wären jetzt raufgeklettert, um zu HELFEN. 

Doch dann wurde mir schlagartig klar: Sie kommen nicht rauf, weil sie es nicht *können*. 
Sie haben ihren faulen Arsch mit dem Auto auf die Platform transportiert und fotografieren nun in sicherer Position die grandiose Bergwelt. Ich war einfach nur eine zusätzliche Attraktion. 

Pilgerfahrten dienen auch der Selbsterkenntnis, so sagt man. Das war so ein Augenblick. 

Ich erkannte, dass genau das mein Leben ist:  Auf einem Pfad zu klettern, den sonst niemand geht. Allenfalls amüsiert belächelt von den anderen. Aber nicht weil ich minderwertig bin -  so wie ich immer dachte - sondern weil ich anders bin. 
Ich hatte jetzt keine Angst mehr, denn das war mein Weg. Ich bin da nicht "hingeraten". Ich bin da, weil ich diesen Weg gehen kann, anders als die Gaffer unten.  

Schliesslich kam ich unten an. Ich bastete Gamin neu. Die Platform Gaffer kamen näher, beäugten mich. Einer sagte zum anderen, so dass ich es gerade noch hörte " Esel mag ich nicht, die sehen doof aus".

Nun hiess es, die 15 Km lange, in schwindelerregenden Schlangenlinien verlaufende Bergstrasse hinunter zu gehen. Runter vom Vercors. Nach jeder Haarnadelkurve wurden die Bäume grüner, die ersten Pinien tauchten auf, eine verheissungsvolle Ahnung von Mittelmeer lag in der Luft. Ja, es stimmte, wir kamen nun in den Midi.



Chamaloc ist denn auch ein typisch südfranzösisches Dorf. Mit Zypressen und Zikaden und einem grossen Lavendelfeld. 

Nach etwas Rumfragen fand ich schliesslich eine Familie, in deren Garten ich campieren durfte.


Gamin imGarten 

Ein Blick zurück zum Vercors, der nun hinter mir liegt. Nun hatte ich doch noch mein "Gotthard" und den damit verbundenen, mystischen Ubergang von Nord nach Süd.  

Ich blicke mit Dankbarkeit zurück, Vercors, du wilde, gefährliche Festung aus Stein und Fels. Die Tage bei Dir waren hart, sehr hart, aber Du hast meine inneren Grenzen weit aufgerissen und Potential freigelegt, von dem ich nie geahnt hätte, dass es da ist. Du hast mir Kraft und Selbstvertrauen gegeben. Lass dich nie von den Menschen zähmen. 

Auf dem Steilpfad selbst konnte ich nicht fotografieren, doch später, weiter unten,  konnte ich den Ort des Geschehens festhalten. Oberer Pfeil zeigt auf Schotterpfad, unterer auf die Gaffer Platform.





3 Kommentare:

  1. Sieh an!
    Das ging aber fix...;-)
    Meine Hochachtung....

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  2. Ja, das ging schnell... Ich habe mit angehalten Atem und Herzklopfen gelesen... Puha... Du bist einfach grandios und Gamin auch... Ich bin froh, dass es dir gut geht und Also sich gemeldet hat.

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  3. Super hast du das gemacht! Und die Erkenntnis finde ich auch gut. Ich wünsch dir dennoch bequemerer Wege für die weitere Reise :-)

    Alles Liebe
    Bodecea

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